Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften

Call for Abstracts: Studientag: „‚Tipping Points‘. Balanceakte in der Literatur und Kultur“, Bergische Universität Wuppertal (28. Juni 2024)

15.03.2024|10:23 Uhr

Frist für Einreichungen: 23. April 2024

In Zeiten großer Unsicherheit ob der (In-)Stabilität von Strukturen aller Arten sehen sich die Literatur- und Kulturwissenschaften mehr denn je mit Fragen nach Verantwortung, Abhängigkeiten und Verletzlichkeit konfrontiert: Die Verstrickung von menschlichem Leben und anderen Lebensformen wird zunehmend komplexer (vgl. Tsing 2015), der anthropozäne Mensch ist selbst längst zur Naturgewalt geworden (vgl. Horn/Bergthaller 2019: 59). Wie schon Gladwell (2001) herausstellt, sind die Beispiele für Kontexte, in denen der sprichwörtliche Tropfen das Fass zum Überlaufen gebracht hat, zahlreich; seien es der Klimawandel, politische Entwicklungen und Konflikte oder Balanceakte auf kleinerer, persönlich-individueller Skala. Diese und andere Themen haben Eingang in vielgestaltige Narrationen gefunden (Romane, filmische Erzeugnisse, Games etc.), die es sich zu untersuchen lohnt.

Diese Tipping Points (Kipppunkte) sind oftmals nur vage bzw. intuitiv bestimmbar. Auch eine präzise Definition gestaltet sich schwierig, sodass eine disziplin- und phänomenübergreifende Bestimmung bislang nicht auszumachen ist. Weit gefasst bezeichnen Tipping Points „Momente[], an denen ein quantitativer Zuwachs in einen qualitativ anderen Zustand umschlägt“ (Horn/Bergthaller 2019: 211). Ähnlich wertfrei definiert das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache den Kipppunkt als „Ausgangspunkt bzw. Abschnitt in einer Entwicklung, ab dem bestimmte Prozesse sich selbst beschleunigen, außer Kontrolle geraten und nicht mehr rückgängig zu machen sind; Punkt, bei dessen Überschreiten ein System aus dem Gleichgewicht gerät“ (Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache 2024). Anderen Bestimmungsversuchen gegenüber bieten diese Ansätze den Vorteil, dass sie sowohl ‚positiven‘ als auch ‚negativen‘ Tipping Points Rechnung tragen. Denn im Gegensatz zu dem alltagssprachlich häufig negativ konnotierten Begriff betrachtet etwa die Soziologie, die das Konzept bereits in den 1950er Jahren etabliert hat (vgl. Grodzins 1957), in den vergangenen Jahren vermehrt positive Tipping Points und analysiert mögliche Trigger, die ein gesellschaftlich ‚wünschenswertes‘ Verhalten bekräftigen können (vgl. Lenton u. a. 2022).

Die Literatur und andere Künste sind für die Erprobung gesellschaftlicher Prozesse besonders prädestiniert: Sie können als Versuchsanordnungen dienen und so Potenziale, Versäumnisse und Gefahren aufzeigen. Mit Blick auf bestimmte Gattungen kann gegenwärtig ein hohes Aufkommen entsprechender Thematiken beobachtet werden. Vom autobiografischen und ‑fiktionalen Erzählen (Benjamin von Stuckrad-Barre: Noch wach?) über Science Fiction (Raphaela Edelbauer: DAVE) bis hin zu Climate Fiction (Roman Ehrlich: Malé) bzw. Social Fiction (Sibylle Berg: GRM) – die Liste literarischer Beispiele allein aus dem deutschsprachigen Raum ist schier unendlich und zeigt, dass Formen des Erzählens einem Prozess der Entwicklung unterliegen. Auch nicht-menschlichen Perspektiven wird angesichts akuter Problemlagen eine Stimme verliehen und „intentionale Handlungsmacht“ bzw. „kausale Wirkmacht“ zugestanden (Horn/Bergthaller 2019: 63). Auf diskursiver Ebene – in Hinblick auf den literarischen Markt und seine Wirkung – präsentiert sich Text als literarisch fixierte Momentaufnahme gesellschaftlicher (Wertungs‑)Prozesse (Kim de l’Horizon: Blutbuch).

Der geplante Studientag möchte dieses weitreichende Feld unter Berücksichtigung verschiedener Sprachkulturen und/oder Medien annehmen. Er soll insbesondere Studierenden und jungen Wissenschaftler*innen die Möglichkeit bieten, Vorträge und Diskussionen zu erproben. Beiträge können sich beispielhaft – aber nicht ausschließlich – folgenden Fragen widmen:

  • Wie verhandeln welche Texte – im weitesten Sinne – Tipping Points? Inwiefern ist die Analyse von einzelnen Erzählungen für ein tiefergehendes Verständnis von Tipping Points aufschlussreich?
  • Inwiefern unterscheidet sich die Repräsentation von Tipping Points in unterschiedlichen Medien?
  • In welchem Verhältnis steht das Konzept ‚Tipping Points‘ zu gängigen literaturwissenschaftlichen Kategorien (z. B. Ereignishaftigkeit)?
  • Kann das Konzept ‚Tipping Points‘ theoretisch weiter geschärft werden? Wie lassen sich die Beziehungsmodi Korrelation, Kausalität und Kontingenz in das Konzept einfügen? Wie verhalten sich Tipping Points zu anderen Verkettungsphänomenen – etwa dem Butterfly Effect oder dem Wendepunkt?

Wir freuen uns über Vortragsvorschläge (20 Minuten Vortrag mit 10 Minuten anschließender Diskussion) und bitten um die Berücksichtigung folgender Punkte:

  • (vorläufiger) Titel des Vortrags
  • ein ca. 300 Wörter umfassendes Abstract mit Auswahlbibliographie
  • Kurzvorstellung (bisheriger akademischer Werdegang, Forschungsinteressen)

Studierende und Promovierende der Literaturwissenschaft sowie angrenzender bzw. verwandter Fächer sind ausdrücklich dazu eingeladen, bis zum 23. April ein Abstract an Ben Sulzbacher zu senden. Die Bewerber*innen erhalten bis zum 26. April eine Rückmeldung. Fahrt- und Übernachtungskosten der Vortragenden können von Seiten der Bergischen Universität Wuppertal leider nicht übernommen werden.

Literatur:

Gladwell, Malcom: The Tipping Point. How Little Things Can Make a Big Difference. London 2001.

Grodzins, Morton: „Metropolic Segregation“. In: Scientific American 24 (1957), S. 33–41.

Horn, Eva/Bergthaller, Hannes: Anthropozän zur Einführung. Hamburg 2019.

„Kipppunkt“, bereitgestellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/Kipppunkt>, abgerufen am 31.01.2024.

Lenton, Timothy M. u. a.: „Operationalising Positive Tipping Points Towards Global Sustainability. In: Global Sustainability 5 (2022), S. 1–16.

Tsing, Anna Lowenhaupt: The Mushroom at the End of the World. On the Possibility of Life in Capitalist Ruins. Princeton 2015.

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